
Prof. Dr. Volker Nienhaus, geboren 1951 in Essen, ist ein deutscher Wirtschaftswissenschaftler. Von 2003 bis 2010 war er Präsident der Philipps-Universität Marburg. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist die internationale Wirtschaftspolitik, besonders diejenige arabischer und asiatischer Länder und die islamische Ökonomie. Seit den 80er Jahren hat Prof. Dr. Nienhaus zahlreiche Bücher und Aufsätze zum Themengebiet “Islamic Finance”
Wie sehen Sie den Bedarf an islamischen Banken in Deutschland?
Für Muslime, die ihre Finanzgeschäfte unter Beachtung der Regeln des islamischen Rechts abwickeln wollen, gibt es zu einer „echten“ islamischen Bank kaum eine Alternative. Mit „echt“ meine ich, dass die Bank zum einen eine Lizenz der deutschen Bankenaufsicht besitzt und ihrer Kontrolle hinsichtlich des ausreichenden Eigenkapitals, der Liquiditätsposition, des Risikomanagements und des Verbraucherschutzes unterliegt. Zum anderen muss die Bank über interne Strukturen verfügen, die sicherstellen, dass die Produkte, Dienstleistungen und Prozesse in der Bank den Scharia-Anforderungen entsprechen. Insofern gibt es auf jeden Fall einen Bedarf für islamische Banken in Deutschland. Wie groß dieser Bedarf allerdings ist, wenn man ihn in Bankkunden und Euro messen will, ist schwer zu sagen.
Wahrscheinlich ist eine islamische Bank in Deutschland gut beraten, sich nicht nur auf die hier lebenden Muslime zu fokussieren, sondern breiter aufzustellen: Eine Bank, die sich auf die Finanzierung der Realwirtschaft konzentriert und Kundengelder nicht für spekulative Finanzgeschäfte einsetzt, dürfte auf allgemeines Interesse stoßen. Eine islamische Bank könnte darüber hinaus Kunden eine schwerpunktmäßige Verwendung ihrer Gelder in bestimmten positiv bewerteten Bereichen anbieten (beispielsweise zur Finanzierung von Energiespar-Projekten, im Gesundheitswesen oder von Immobilien für besondere Zielgruppen). Sie dürfte damit einen Bedarf decken, der auch von einer immer größeren Zahl von Nicht-Muslimen artikuliert und von konventionellen Banken aufgegriffen wird. Sozialverantwortliches Wirtschaften ist ein Anliegen, das religionsübergreifend ist. Eine islamische Bank könnte dieses Ziel sehr glaubhaft in ihre Unternehmensphilosophie aufnehmen und sich damit gut in einem stark wachsenden Segment der Finanzwirtschaft positionieren.
Welcher Sektor im Bereich des Islamic Banking ist Ihrer Meinung nach am interessantesten?
In vielen Ländern sind im Privatkundengeschäft die Immobilienfinanzierung sowie Konsumentenkredite für langlebige Konsumgüter (insbesondere Autos) unter Ertragsgesichtspunkten am interessantesten für die Bank. Für Beobachter der islamischen Bankenszene sind innovative schariakonforme Strukturen der Immobilienfinanzierung besonders interessant.
Wenn man allerdings die Finanzierung der produktiven Wirtschaft als ein Kernanliegen versteht, erscheint ein anderer Bereich des Islamic Banking am interessantesten, nämlich jener der Finanzierung von innovativen und expansiven Unternehmen.
Zum einen gibt es einen Kapitalbedarf für Unternehmensgründungen, den konventionelle Banken nur unzureichend decken. Dies hat unter anderem zu einer rasch wachsenden Crowdfunding-Szene geführt. Islamische Banken, die das ribā-Verbot nicht nur formalistisch sehen, sondern sich dem Grundsatz verpflichtet fühlen, dass nur derjenige einen Anspruch auf eine Vergütung für sein eingesetztes Kapital hat, der sich auch am unternehmerischen Risiko des finanzierten Partners beteiligt, sollten hier über innovative Finanzierungsformen nachdenken. Sie könnten beispielsweise ihren Kunden im Einlagengeschäft spezifische Investitionskonten anbieten, deren Mittel verwendet werden, um in Kooperation mit Crowdfunding-Plattformen durch Diversifizierung risikooptimierte Portfolios von Gründungs- oder Projektfinanzierungen zu entwickeln.
Zum anderen gibt es im deutschen Mittelstand große und wachstumsstarke (oft international marktführende) Familienunternehmen, die Probleme mit der Finanzierung ihres weiteren Wachstums haben: Neue Aktien würden die Eigentümerstruktur verwässern und zusätzlichen Bankkredite würden die Krisenanfälligkeit erhöhen. Für diese Unternehmen könnte „temporäres Eigenkapital“ eine sehr attraktive Finanzierungsform sein. Dazu hat das islamische Recht Vertragskonstruktionen entwickelt, die auch im modernen islamischen Banking bereits angewandt worden sind. Zur Finanzierung größerer Wachstumsinvestitionen dürften die Einlagen einer neu gegründeten islamischen Bank (hinsichtlich des Volumens und des Risikomanagements) kaum ausreichen. Vielmehr wäre an eine Refinanzierung über sukūk zu denken, die für islamische Investoren, insbesondere im arabischen Raum und in Süd-Asien, attraktiv sein könnte.
Seit Mitte der 70er Jahre werden immer häufiger Konzepte der islamischen Wirtschaftsordnung formuliert und als Alternative propagiert. Wie ist dieses Interesse zu begründen?
Das Interesse an einer islamischen Wirtschaftsordnung ist schon älter und geht auf politische Bemühungen seit den 1930er Jahren zurück, nach dem Rückzug der Briten aus Indien einen eigenen Staat für die Muslime zu schaffen. Dies ist zwar 1947 mit der Gründung Pakistans geschehen, aber die Wirtschaftsordnung des Landes war in den ersten Jahrzehnten sehr säkular, weswegen die Diskussion um eine adäquate Ordnung fortgesetzt wurde. Mit dem neuen Ölreichtum der muslimischen Staaten wurde in den 1970er Jahren die Diskussion strukturierter und internationaler. Eine Konferenz in Mekka 1976 führte zu einer Vernetzung der bis dahin verstreuten Einzelbeiträge zur islamischen Ökonomie. In dieser Konferenz sowie in Folgeveranstaltungen und neuen Journalen wurden immer wieder Konzepte und Einzelaspekte einer islamischen Wirtschaftsordnung diskutiert. Diese Diskussionen signalisieren nicht nur ein akademisches Interesse an Ordnungsfragen, sondern belegen auch das Bemühen um die Entwicklung eines Systems, das seine Rechtfertigung nicht einfach aus der Existenz des Vorgefundenen bezieht, sondern auf identitätsstiftende Wurzeln in der eigenen Geschichte und Weltanschauung zurückgeführt werden kann. Darüber hinaus darf man die politische Dimension der islamischen Ordnungsentwürfe nicht übersehen: Eine „ideale“ Ordnung ist immer auch ein Bewertungsmaßstab für reale existierende Wirtschaftssysteme. Da in vielen Ländern die realen Ordnungen weit vom Ideal entfernt sind und an Problemen wie Staatsinterventionismus, Korruption und Vetternwirtschaft, mangelnde Rechtssicherheit, extreme Ungleichverteilung von Reichtum, Armut und Arbeitslosigkeit sowie Raubbau an der Natur leiden, kann die Präsentation und Diskussion eines Ideals auch als fundamentale Kritik am Status quo verstanden werden, die in autoritären Systemen nicht ohne weiteres direkt artikuliert werden kann.
Welche Lösungen und Alternativen kann Islamic Banking für aktuelle Probleme in der Finanzwelt bieten?
Einige Möglichkeiten im einzelwirtschaftlichen Bereich wurden ja bereits oben angesprochen. Oft wird diese Frage aber auch im Hinblick auf gesamtwirtschaftliche Probleme gestellt und man sieht in der relativen Stabilität der islamischen Banken in der Finanzkrise 2007-2009 einen Beleg für die systemische Überlegenheit des Islamic Banking. Dieser Sicht würde ich nicht zustimmen.
Es ist zwar richtig, dass die islamischen Banken die Finanzkrise relativ unbeschadet überstanden haben, aber dies gilt auch für fast alle konventionellen Banken in jenen Ländern, in denen islamische Banken tätig waren. Dies liegt daran, dass diese Länder generell nur geringe Verflechtungen mit den internationalen Kapitalmärkten aufwiesen und auch die konventionellen Banken nicht in Märkten mit toxischen Wertpapieren aktiv waren. Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass – von wenigen Ausnahmen abgesehen – die Marktanteile islamischer Banken insgesamt noch keine systemrelevante Dimension erreichen. Für die einzelnen islamischen Banken gilt dies mit ganz wenigen Ausnahmen ebenfalls: Die meisten islamischen Banken haben nur eine Größenordnung, die der der größten deutschen Genossenschaftsbanken entsprechen, mit Bilanzsummen von circa 4 bis 13 Milliarden Euro. Nur eine Genossenschaftsbank erreicht eine Bilanzsumme von 35 Milliarden Euro. Diese haben die Finanzkrise ebenfalls recht gut überstanden, weil sie die regionale Realwirtschaft finanziert und sich überwiegend von spekulativen internationalen Finanztransaktionen fern gehalten haben.
Es mag sein, dass ein auf dem Prinzip der Gewinn- und Verlustbeteiligung aufbauendes islamisches Bankensystem theoretisch stabiler ist und besser „Schocks“ absorbieren kann. In der Praxis wird dieses Prinzip aber weitgehend vernachlässigt, und zwar sowohl im Finanzierungsgeschäft als auch zunehmend im Einlagengeschäft durch „Gewinnglättungen“ und durch Vertragskonstruktionen, welche die Kundengelder absichern und gleichzeitig einen (risikolosen) Ertrag in Aussicht stellen. Solange es aber funktional keine wesentlichen Unterschiede zwischen konservativen, auf die Realwirtschaft fokussierten, konventionellen und islamischen Banken gibt, kann man vom Islamic Banking keine besonderen Beiträge zur Lösung von gesamtwirtschaftlichen Problemen des Finanzsystems erwarten. Dies mag sich in der Zukunft ändern, aber dazu bedarf es eines längeren Prozesses der Neuausrichtung der Praxis islamischer Banken.
In einer Ihrer Arbeiten listen Sie die Leitlinien der islamischen Ökonomie auf und machen deutlich, dass alle Elemente auch in den „Leitlinien für Wohlstand, soziale Gerechtigkeit und nachhaltiges Wirtschaften“ der Konrad-Adenauer-Stiftung zu finden sind. Was ist also das Islamische an diesen Ordnungskonzepten?
Die meisten der seit den 1970er Jahren im Mainstream der islamischen Ökonomie diskutierten islamischen Ordnungsentwürfe unterscheiden sich funktional nicht grundlegend von Teilordnungen, wie sie etwa für eine soziale Marktwirtschaft konzipiert worden sind. Eine Ausnahme bildet die Ordnung der Finanzwirtschaft, in der das ribā-Verbot beachtet und das Prinzip der Gewinn- und Verlustbeteiligung angewandt werden soll. Davon abgesehen finden sich weitreichende Übereinstimmungen, beispielsweise in Fragen von Privateigentum und Wettbewerbsmärkten, der Verantwortung gegenüber künftigen Generationen (Umweltpolitik) und gegenüber denjenigen, die kein ausreichendes Markteinkommen erzielen können (Sozialpolitik) oder hinsichtlich des Stellenwerts von Rechtssicherheit.
Das Islamische wird also nicht primär im Funktionalen sichtbar, sondern in der Rechtfertigung beziehungsweise Legitimation von Ordnungsentwürfen, die letztlich auf die primären Quellen des Islam – den Koran und die Sunna des Propheten – zurückzuführen sind. Dabei sind die sich wandelnden sozio-ökonomischen Umstände in ihrem historischen Kontext zu berücksichtigen. Dazu zählen zum Beispiel die Existenz von Unternehmen als selbständige juristische Personen mit haftungsbeschränkten Rechtsformen, von Banken, von Wertpapiermärkten, von stoffwertlosem Papiergeld, von geistigen Eigentumsrechten und vieles mehr.
In den letzten Jahren erfahren Modelle islamischer Wirtschaftsordnungen eine funktionale Bereicherung dadurch, dass Institutionen, die in der islamischen Geschichte eine größere Bedeutung hatten, aber in den letzten 100 Jahren weitgehend unbeachtet blieben, wiederbelebt, modernisiert und konzeptionell in die islamischen Ordnungsentwürfe integriert werden. Zu erwähnen wären hier insbesondere das System der Sozialabgabe (zakāt) und das Stiftungswesen (waqf), aber auch Institutionen im Bereich der Mikrofinanzen, die auf Philanthropie (sadaqat) und Solidarität aufbauen. Schließlich ist die Strukturierung von Versicherungen auf Gegenseitigkeit (takāful) erwähnenswert. Es ist absehbar, dass islamische Ordnungsentwürfe künftig durch die systemische Integration solcher institutioneller Arrangements funktional eigenständigere Konturen erhalten werden.